Halimahs Erwachen

Die Premiere vom 20.04.2018

Laut dröhnt türkische Folkloremusik durch die Krieterstraße in Wilhelmsburg, zu der ausgelassen eine Hochzeitsgesellschaft tanzt. Schüsse sind zu hören, die sich als Konfettikanonen herausstellen und das gesamte Geschehen, zusätzlich zu den ganzen bunten Tanztüchern, in ein farbenfrohes Meer tauchen. Ein roter Teppich und ein überdimensionales Cover eines Reclamheftes zieren den Eingang zum Bildungszentrum Tor zur Welt, vor dem sich die rund 400 Gäste eingefunden haben. Die Gäste werden, wie eine wartende Braut, von der tanzenden Hochzeitsgesellschaft abgeholt und in den großen Theatersaal des Bildungszentrums TzW geführt. 


Der mit Bahnen von schwarzer Folie durchzogene Raum und eine auf der Bühne weinend stehende Braut, machen dem Publikum eines von Anfang an klar:

Dieses wird keine Trauungs-, sondern eine Trauerfeier. Gleichsam spricht es die Braut, mal lethargisch mal voller Entsetzen, zum Publikum: „Das Leben ein Trauerspiel. Wer traut sich zu leben, wenn man mit seinem Leben spielt [...] ein Leben von Trauung zu Trauung, von Feier zu Feier. Ob Hochzeit oder Beerdigung, beides mein Trauerspiel“.

Nicht umsonst wurde hier Wedekinds Frühlings Erwachen auf dem Werbeplakat und dem Cover am Eingang mit blutroter Farbe durchstrichen und mit dem Anschrieb „Halimahs Erwachen. Lieber tot als ehrenlos“ ersetzt.

Es handelt sich um ein Theatergroßprojekt, das mit einer eindrucksvollen Poetry Night im Februar zum Thema Ehre, den Auftakt für eine Veranstaltungsreihe setzte, die durch Theateraufführungen, Lesungen, Ausstellungen, Podiumsdiskussionen und einem Bildungskongress, eine Auseinandersetzung mit dem Stadtteil sucht. 

Wedekinds Kindertragödie wird dabei als kommentierte und kommentierende Vorlage genutzt, um den tabuisierten Umgang mit solchen Themen in unserem unmittelbaren Umfeld zu verdeutlichen. 

In der Ankündigung zu dieser großen Premiere, die nun am 20.04. stattfand, wird auf ein unfertiges Stück hingewiesen, das sich in mehreren Phasen bis zum Februar 2019 entwickeln soll. Die Zuschauer werden darin zu einer „nichtendenden Hochzeit“ eingeladen, die sie an die „Grenzen ihres Rezeptionsvermögen“ bringen werde. 

 

Das Motiv der Hochzeit und der tanzenden Hochzeitsgesellschaft bildet den Rahmen für mehrere tragische Einzelschicksale, die um die eigentliche Handlung gestrickt wurden: Die Geschichte Halimahs und ihrer Familie.

„Ein Schüler aus Afghanistan, fühlte sich so, als seien die erlebten persönlichen Konflikte in seiner Heimat augenblicklich auf dieser Bühne in Hamburg zum Fühlen, Betrachten und Begreifen dargestellt“, berichtet eine Lehrerin im Nachgespräch, die die Premiere mit SchülerInnen einer internationalen Vorbereitungsklasse besuchte. 

Die Geschehnisse überschlagen sich auf der Bühne bzw. den drei Bühnen, die alle samt bespielt werden. Die 36 Schülerinnen und Schüler des Helmut-Schmidt-Gymnasiums aus dem Medienprofil des 11. Jahrgangs und der Theater AG „Viel Theater um uns!“, die aus der 9., 10. und 11. Jahrgangsstufe zusammengesetzt ist, nutzen eindrucksvoll den gesamten Theatersaal. Neben der Hauptbühne wurden auf Etagenbühnen zur rechten und linken Seite, Familienfehden ausgetragen, Eheversprechen gegeben, Brautpaare platziert und Kämpfe ausgetragen. Um das Publikum herum traten immer wieder die SchauspielerInnen tanzend oder im Chor aus dem Hintergrund hervor. Einprägend wurde in diesem Verfahren der sich wiederholende Ausruf des Chores: „Ich bin eine Tochter, eine Schwester, ein Mensch!“

„Ich hatte vom Anfang bis zum Ende eine Gänsehaut“, berichtet eine ehemalige Schülerin, die mit ihrer gesamten Familie zu der Aufführung gekommen ist. 

Mitreißend sind die Einzelschicksale der Figuren, an denen die kontroversen Themenkomplexe Ehre, Jungfräulichkeit, Zwangsheirat, Ehrenmord und Homosexualität abgearbeitet werden. 

 

Halimah ein starkes, selbstbewusstes und strebsames Mädchen, das ein Kopftuch trägt und sich nicht mehr nur gegen Diskrimierungen in der Schule und der Gesellschaft behaupten muss, steht nun in Mitten einer Blutsfehde, die nur durch eine Heirat mit dem ihr verhassten Cousin überwunden werden kann. Wie soll sie sich gegen solch eine katastrophale Entwicklung in ihrem Leben behaupten? Hinzukommt die Auseinandersetzung mit ihrem jüngeren Bruder Yahya, der sich wie ihr Vormund aufführt und als Versager in der Gesellschaft und Familie seinen „ehrenvollen Ruf“ an der Schwester und ihren Umgang ausmacht.  

Mit ihm, einem prototypischen Macho und Haudegen, wird zum ersten Mal auf einer hamburger Bühne die Geschichte eines türkischstämmigen homosexuellen jugendlichen Paares erzählt, das sich zwischen gesellschaftlichen Konventionen und starren Männlichkeitsbildern verliert. 


 

Die gesamte Familie verliert sich im Eifer um das Ansehen in der Gesellschaft und in der Furcht vor dem Gerede anderer. Vater, Mutter, Tochter und Sohn bilden den eigentlichen Erzählkern und roten Faden eines bürgerlichen Trauerspiels im 21. Jahrhundert. Familienkonstellationen und -beziehungen stehen auf dem Prüfstand. Wie auch die Geduld des Publikums durch ständige chorische Unterbrechungen, Rahmenhandlungen und sich wiederholende Zeitschleifen auf die Probe gestellt wird. „Wir wollten den nicht endenden Hochzeitswahnsinn, der sich allein schon in Hamburg von Wochenende zu Wochenende ereignet, auf die Bühne bringen und für den Zuschauer erdrückend erfahrbar machen“, erklärt Theaterlehrer Bouden.

Das Konzept geht auf, das Publikum ist überwältigt, überfordert und sprachlos. „Ich muss mich zuhause für mich alleine auf die Terrasse setzen, um das alles zu verarbeiten,“ sagt eine emotional betroffene Rebional Mitarbeiterin. Sie war überwältigt von den Themen und der Darstellungsleistung der Schauspielerinnen, und sah sich immer wieder mit dem Gedanken konfrontiert „Was wäre, wenn es um meine Tochter gehen würde?“. Sie zieht das Fazit: „Die Bühne war viel zu klein für die Themen, die dort umgesetzt wurden“. 

Dieses wird auch zum Tenor des Abends: Das Stück muss noch viel mehr Menschen erreichen. 


 

Das Theatergroßprojekt „Halimahs Erwachen“ verfolgt auch genau dieses Ziel. Gemäß der Unterrichtskonzeption „Viel Theater um uns! Theater als Ausgangspunkt für gesellschaftliche und politische Partizipation“, das mit dem Hamburger Bildungspreis ausgezeichnet wurde, sollen die Missstände in der Gesellschaft benannt und im öffentlichen Diskurs im Stadtteil aufgearbeitet werden.

Trotz des imposanten Ausmaßes der Premiere weisen die Veranstalter darauf hin, dass es sich bei der Aufführung um ein unfertigen Stückes handelt. 

Die Jugendtragödie soll demnach in drei Phasen aufgeführt und erst mit der dritten und letzten Inszenierung im Februar 2019 ein unwiderrufliches Urteil zu den Figuren aussprechen. 

Die nächste anstehende Veranstaltung soll am 20.06.18 stattfinden, bei der das Ensemble in Kooperation mit dem Theater am Strom in der Emmaus Kirche in Wilhelmsburg auftreten wird. Unter dem Arbeitstitel „Wie könnt‘ ich stolz sein an deiner Stelle“, werden Auszüge aus Halimahs Erwachen mit neuen Szenen kombiniert, die Wedekind selbst ins Spiel bringen sollen.